Kapitel 5


Graces Körper summte vor Aufregung und ihr Magen krampfte noch immer. Was in sie gefahren war Dylan Nite offen zu drohen, konnte sie nicht begreifen. Eigentlich wollte sie ausgesprochen charmant sein, doch dann hatte sie die Panik überkommen. Plötzlich spukte ihr Exfreund durch ihre Gedanken und ehe sie sich versah, hatte sie um jeden Preis die Überhand bei diesem Gespräch behalten wollen.
„Das ging aber schnell.“ Blanche schob ihre Handtasche über ihre Schultern. „War er’s nicht?“
„Doch. Wir sind in Verhandlungen.“ Sie konnte nicht atmen. Das letzte Mal, dass sie mit so einem Klotz gestritten hatte, war sie im Krankenhaus wieder aufgewacht.
„Verhandlungen?“ Blanche reckte neugierig den Kopf in Richtung Quarterback. „Was für Verhandlungen?“
„Starr ihn nicht so an.“ Grace griff nach Blanches Hand, um sie in Richtung Eingang zu zerren und stellte fest, dass sie zitterte. Sie war sich so sicher gewesen darüber hinweg zu sein, aber dieser abartig große Mann auf dem Rasen hatte durch drei Halbsätze sämtliche ihrer Alarmglocken aktiviert.
„Hast du ihn des Mordes bezichtigt, oder so?“ Die Augen ihrer Großmutter blieben unvermittelt auf Dylan gerichtet. „Er sieht aus, als wolle er gleich explodieren.“
„Gott vergib mir. Ich hab‘ gedroht seine Fassade auffliegen zu lassen, wenn er mir kein Interview gibt.“ Vor Blanche diesen Erpressungsversuch einzugestehen, ließ Grace das ganze Ausmaß ihrer Panik realisieren. Normalerweise würde sie nie zu solchen Mitteln greifen.
„Du bist ja eine richtige Vollblutreporterin.“ Ihrer Großmutter schienen ihre zweifelhaften journalistischen Methoden eher zu imponieren, als sie verwerflich zu deklarieren. „Hast den  richtigen Biss, Kindchen.“
„Mh.“ Grace ließ die Schultern sinken.

 

°°°

Dylan zerrte an dem verkanteten, rostigen Nagel, mit der die morsche Zaunlatte an den Querstreben befestigt war. Nichts bewegte sich.
„So ein Dreck!“ Er warf den nutzlosen Hammer aufs ausgedorrte Gras und riss mit purer Muskelkraft an dem alten Gebälk. „So ein verfluchter-“ Das Holz gab ein Splittern von sich und er hatte die Hälfte der alten Zaunlatte in der Hand. „Scheiße!“ Er donnerte das abgebrochene Stück gegen den dicken Stamm des Ahorns. Diese verfluchten, blutsaugenden Reporterbiester! Wieso konnten die ihn nicht in Ruhe lassen?“
Er schlug auf sein ramponiertes Werk und gab einen Schmerzenslaut von sich, als sich ein Spreißel in seine Hand bohrte.
„Argh!“ Er starre seine lädierte Handkante an, in die sich ein Holzsplitter gebohrt hatte.
Dieses Biest. Dieses elendige, blutsaugerische Biest! Er zog sich das Holzstückchen aus der Haut, das eine Ader getroffen hatte, ehe er die Wunde zu seinen Lippen führte und daran saugte. So ein Mist! Es war nicht tief, trotzdem war er noch ein wenig wütender auf diese Möchtegern Schönheitskönigin, die ihn zu erpressen gedachte.
Seine Ex war genauso gewesen. Nur weil es nicht nach ihrem Kopf gegangen war, hatte sie ihn diesen Aasgeiern zum Fraß vorgeworfen. Diese Weiber machten ihn Wahnsinnig! Wieso konnten sie sich nicht einfach um ihren eigenen Scheiß kümmern und die Privatsphäre anderer in Ruhe lassen?
Das interessierte doch niemanden was er trieb!
„Dylan? Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Mr. Vasquez, sein Betreuer, streckte seinen Kopf aus dem zweiten Stock. Der kurz geschorene, graue Haarkranz leuchtete in der Mittagssonne.
„Mphf.“ Dylan wank ab. Er hatte keine Lust auf Ärger. Er wollte einfach nur spielen und seine verfluchte Ruhe, während er seine Sozialstunden ableistete, das war doch nicht zu viel verlangt, verdammt! „Danke, geht schon.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja“, fühlte er sich gezwungen zu antworten. „Bestens.“ Wenn dieses Weibsstück ein Interview haben wollte, konnte sie eines haben. Er hatte schon härteren Brocken eines Ausgewischt. Nur diesen Hinterhalt aus seinen eigenen Reihen hatte er damals nicht auf dem Plan gehabt. Die Kleine heute war nichts weiter als ein Spreißel in seiner Hand. Nervig und winzig.

°°°

Graces Onkel Clarence gehörte nicht wirklich zur Familie. Er war einer der besten Freunde ihres Großvaters gewesen und bei allen wichtigen Erlebnisse im Leben der Goodwins anwesend. Einst hatte ihm der Tante Emma Laden in der Longman Road gehört und seiner Frau eine kleine Schneiderei.
An guten Tagen war Clarence ein Quell der Lebensfreude und der Witzes, an schlechten konnte er sich leider an nicht mehr viel aus den letzten fünfundsiebzig Jahren erinnern. Das ihn deshalb das Wohl und Wehe des Wolves auch nur noch im Entferntesten interessierte, war mehr als fraglich.
„Clarence war heute Morgen recht klar“, wurde Blanche von einer der Schwestern informiert, als sie in den zweiten Stock kamen. „Er hat sich auf ihren Besuch gefreut.“
Grace zuckelte hinter ihrer Großmutter und der Schwester her, die schon an der Tür waren. Sie hätte Dylan Nite nicht drohen dürfen. Egal wie panisch sie in dem Augenblick gewesen war.

 
„Sieh mal, wen ich mitgebracht habe, Clarence! Kennst du unsere Gracie noch?“, drang die Stimme ihrer Großmutter bereits zu ihr, als sie in Clarence Doppelzimmer kam, dessen zweites Bett heute verwaist war.
„Grace?“ Der alte Herr, dessen weit abstehende Ohren irgendwann einmal einen extrem niedlichen Jungen abgegeben haben mussten, sah sie aus orientierungslosen Augen an. Seine dunkle Haut stand in krassem Gegensatz zu seinen weißen Haaren.
„Hallo, Onkel Clarence!“ Er war nicht schwerhörig, aber sie erhob immer die Stimme, wenn sie mit ihm sprach. Eine weitere Gewohnheit, die sie nicht ablegen konnte. „Kennst du mich noch?“
Er lächelte und Grace tat es in der Seele weh, weil sie genau wusste, dass er keine Ahnung hatte, wer vor ihn stand.
„Das ist Grace, Clarence. Meine Enkelin!“ Auch Blanche hatte die Angewohnheit in seiner Anwesenheit lauter zu werden. „Du hast ihr das Fahrradfahren beigebracht! Erinnerst du dich?“
„Grace?“
„Ja. Grace“, bestätigte ihre Großmutter, während Grace sich auf den Stuhl neben dem Bett sinken ließ. Das würde ein langer Nachmittag werden.


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Eliza Hill